Der schönste Beruf der Welt

Wahrscheinlich entsteht die Idee, Schauspieler werden zu wollen, bei den meisten Menschen in erster Linie aus der Sehnsucht, einmal ein anderer zu sein, als man im normalen Leben ist. Das Alltagsleben erscheint oft so langweilig und in seinem regelmäßigen Trott so farblos, dass die Vorstellung, sich berufsmäßig in einen anderen verwandten zu dürfen, geradezu an das Drehen der Aladinschen Wunderlampe erinnern muss. Aber dieser Beruf hat wenig Märchenhaftes  an sich, und das Theater ist auch kein Kostümfest, zu dem jeder Mensch so erscheinen darf, wie er sich im Grunde selber sieht und gesehen werden möchte.

Wenn mich nun junge Menschen fragen, woran man erkennen können, ob sie schauspielerisches Talent besäßen, und was sie bräuchten, um diesen Beruf ausüben zu können, nenne ich ihnen immer als erstes die einzige Bedingung, die ich für absolut unverzichtbar halte: Sie müssen in ihrem Herzen ein Kind geblieben sein! Ein den Kinderschuhen völlig entwachsener, kritisch denkender und überlegen handelnder Mensch wird diesen Beruf nicht verstehen können.

Ein paar Voraussetzungen, die mir für diesen Beruf wichtig erscheinen:

Phantasie
Phantasie ist ein absolutes Muss für den Schauspielerberuf! Es gibt die produktive und die reproduktive Phantasi. Die produktive, also schöpferische Phantasie ist Dichterin, Malerin und Komponisten vorbehalten.  Die Schauspielkunst braucht die rein reproduktive Phantasie. Ihre Phantasie wird immer durch etwas Vorgegebenes angeregt. So muss Ihnen bei der Lektüre eines Stückes alles Mögliche zur Realisierung der Handlung einfallen, und die Ideen zur Verwirklichung Ihrer Rolle müssen förmlich aus Ihnen heraussprudeln. Da darf Ihre Phantasie Sie nicht rasten und ruhen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass Ihre Einfälle Sie bis in den Schlaf verfolgen. Wenn Sie das so quälend erleben, haben Sie schon einen ersten Schritt in den Beruf getan. So wie ein Kind in einem Stuhl, je nach dessen Stellung, ein Zelt, einen Traktor oder einen Dampfer sehen kann, genauso müssen I Ihnen beim Lesen Ihrer Rollenfigur unzählige Ideen kommen, wie und wodurch die noch blutleere Gestalt zum Leben erweckt werden kann.
Ein Schauspieler kann niemals zu viel Phantasie haben. Beschneiden und Kappen lassen sich Auswüchse und wilde Wucherungen am treibenden Baum leicht, aber aufpropfen, nein, aufpropfen kann man Phantasie nicht.

Beobachtungsgabe
Sie sollten über Beobachtungsgabe Einfühlungsvermögen, und Nachahmungstrieb verfügen. Diese drei Voraussetzungen erfüllt ein Kind in Vollendung. Es beobachtet die Erwachsenen bei all ihren Verrichtungen genau und ist spielend fähig, sich in deren Lage hineinzuversetzen um sie dann mit großer Lust ernsthaft nachzuahmen– das A und O des Schauspielerberufs!
Ihr Interesse an den Mitmenschen und am alltäglichen Leben darf deshalb nie erlahmen, Ihre Neugier auf andere nie nachlassen. Beobachten Sie nur, wie Menschen in genau denselben Situationen oft völlig verschieden reagieren. Ihr Gedächtnis muß wie eine vollgespeicherter Compuert sein. dessen Programme Sie jederzeit abrufen können, wenn Sie für eine Situation in ihrer Rolle eine bestimmte, einmal beobachtete Verhaltensweisen brauchen. Ihr Ausdrucksmaterial ist das tägliche Leben.

( aus: Regine Lutz, Schauspieler – der schönste Beruf der Welt – München 2002 by Langen Müller )