Gefühlsäusserungen

Marie Leuenberger wurde 1980 in Berlin geboren und wuchs in Basel auf. Viele Jahre war sie an deutschen Theatern engagiert. In ihrem jüngsten Film „Bis wir tot sind oder frei“ spielt sie die Strafverteidigerin Barbara Hug.
In einem Interview erzählt Marie Leuenberger über die Dreharbeiten und ihre Rollengestaltung.

Zunächst fragt die Journalistin:
In dem Film „Die göttliche Ordnung“ spielten Sie eine stille, sich emanzipierende Frau. Sie haben die Figur einmal mit einer Pflanze verglichen. In Anlehnung an eine Übung der Schauspiellehrerin Susan Batson. Woran dachten Sie bei der Darstellung der linken Rechtsanwältin Barbara Hug?

Marie Leuenberger:
Im Nachhinein denke ich bei Barbara Hug an einen Wolf. Einsam, aber trotzdem im Rudel. Als Einzelgänger gefürchtet, ein Wesen von einer unglaublichen Schönheit… Ich habe Respekt vor dieser realen Person und ich werde ihr bestimmt nicht gerecht. Das kann man gar nicht. Einmal waren Verwandte von ihr am Filmset. Da dachte ich, ich bin nicht eure Barbara. Ich bin eine Figur. Es gibt ein Drehbuch, unser Film ist fiktiv. Ich brauche den Schutz der künstlerischen Freiheit auch für mich. Ich stelle jemanden dar, aber ich bin jemand anderes. Für mich war es eine große Verwandlung, weil ich ganz anders bin als Barbara Hug. Es war eine Rolle, bei der ich anfangs sehr genau wusste, was ich möchte, aber nicht, wie ich es hinkriege. Mir schien sie wie ein grosses kraftvolles Gemälde. Ich habe dann Szene für Szene wie ein Mosaik zusammengesetzt.

Die Journalistin:
Barbara Hug war beim Gehen schon als junge Erwachsene auf Krücken angewiesen. Wie schafften Sie es, das so erschütternd darzustellen?

Marie Leuenberger:
Ihr Körper schreit immer. Sie will ausbrechen aus ihm und schafft das nur über den Kopf. Die Gedanken sind ihr Ventil. Ich glaube, dass sie sich selbst total vergisst. Sie ist von sich selbst abgeschottet, sie weiss nicht, wo ihre Freiheit liegt, sie erkämpft sie für andere. In meiner Vorstellung ist sie ständig auf der Flucht. Sie vernebelt sich in ihrer Welt und gleichzeitig rebelliert sie für andere, um ihnen etwas zu schenken, das sie sich selber aber nicht gibt. Für sich selbst scheint sie nicht zu existieren. Sie definiert sich nicht als Frau, etwa indem sie eine Schönheit darstellt oder eine Liebschaft hat oder eine Familie versorgt, so wie das Frausein leider immer noch häufig in Film und Fernsehen gezeigt wird. Nein, sie ist total eigenständig. Das gibt mir eine ganz große Freiheit beim Spielen. Es begann schon in der Maske: Morgens bekam ich erstmal Öl in die Haare, Flecken auf die Haut und tiefe Augenringe. Mit Schönheit war da nicht zu punkten. Es war großartig, in dieser Hinsicht keine Erwartungen erfüllen zu müssen, sondern sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Darum geht es in jeder Szene, und nur darum. Und eben nicht um die Frage: Wie wirke ich als Frau. Diese Frau kann grob, barsch, unwirsch, sogar gehässig sein, das sind alles Gefühlsäusserungen, die nicht als typisch weiblich gelten. Ich wünsche mir mehr solcher Rollen.