Wie entsteht eine Figur?

Kompilation aus : „ Leben üben“ von Horst Hawemann, Theater der Zeit, Berlin 2014
(Horst Hawemann war langjähriger Lehrer an der „Busch“)

Eine Figur sollte mehr Inhalt haben, als von ihr vorgezeigt werden kann. Der Mensch ist zum Glück viel mehr, als ich von ihm weiß, als von ihm zu sehen, zu hören und konkret zu erfahren ist. Man kann ihn erahnen und erfühlen. Ihn erklären kann die Bühne nicht.

Das Grundverhalten (abgeleitet aus der Textanalyse und dem Studium des Kontextes) bestimmt oft den Anfang des Handelns der Figur, es hat eine Vorgeschichte und besitzt bestimmte Ausdrucksmittel, die sich wiederholen und oft schon sehr verfestigt haben:

• Gang: wie geht die Figur? / wie bewegt sie sich?
• Sprechgestus: wie spricht sie / wie ist ihre Sprache?
• Gestik: wie bewegt sie sich / wie gestikuliert sie? ;
• sozialer Status: wie geht sie mit anderen Menschen und Gegenständen um?

Dieses Grundverhalten ändert sich nur durch besondere Ereignisse. So formt die Figur ihre Grundhaltung durch die Entwicklung von Vorgängen in und zu einer Geschichte.
Die Figur sollte eine Biografie, eine Vorgeschichte haben und eine Perspektive, eine Zukunft.
Die Schauspieler erzählen die Geschichte der Figur von einfachen Anfängen her, auf der Grundlage von dem, was der Autorentext preisgibt. Sie beginnen dort, wo das Stück noch nicht angefangen hat. Mit einer ungebundenen Phantasie nähern sie sich in „sammelnden angewandten Improvisationen“ den Figuren und den Vorgängen ihrer Vorgeschichte an.

Ein Beispiel:
Die engagierte Schauspielstudentin A erarbeitet die Rolle der Antigone. In dem Stück will eine Schwester ihren toten Bruder gegen das ausdrückliche Gebot des Königs begraben. Der Bruder war in der Schlacht getötet worden. A wollte sich dem Tod über das Leben nähern. Sie holte sich vom Korridor einen Kommilitonen und ernannte ihn zu Polyneikes, dem Bruder. Mit ihm gemeinsam improvisierte sie Szenen aus glücklichen Tagen, aus Kindheit und Jugend, weit weg von Krieg und Tod.
So bereitete sich die Szene vor. Sie war vom Leben bewegt.

Man muss den szenischen Biografien der Figuren auf die Spur kommen, da in ihnen Motive ihres Handelns zu finden sind. Wie ist das Leben verlaufen, wo angekommen und wohin bewegt es sich?
Die Figurenkenntnisse begleiten die Arbeit während der Proben, aus ihnen kann man Haltungen, Bewertungen, Konfliktverhalten und Entwicklung schöpfen.
War der bisherige Lebenslauf der Figur gezeichnet durch Niederlagen, Unterdrückung und Zwang, dann werden die szenischen Handlungen dieser Person kaum von Wagemut, Tatendrang und Entscheidungswillen bewegt werden – wenn nicht besondere Ereignisse auftreten, die zu einer Veränderung drängen oder zwingen.

Übung: Der Biografie-Parcours
In einem grossen leeren Raum werden in einer Linie mit Zwischenräumen Sitzmöbel aufgestellt:
eine Fußbank – ein Schulstuhl – eine Parkbank – ein Bürostuhl – ein Sessel – ein Schaukelstuhl – ein Kneipenstuhl – ein Lehnsessel – ein Rollstuhl…
Diese Möbel werden Zeichen für Lebenssituationen. Man bewegt sich von einer erdachten Lebenssituation in eine nächste. Ein Lebenslauf entsteht.
Die Übung erweitert sich, wenn man Gegenstände, die bestimmte Lebensabschnitte begleitet haben, aufreiht. Oder Bekleidungen: Schuhe! Von den ersten – zu den letzten.

Häufig verzichtet die moderne Dramatik auf Biografien. Dies ist die Entscheidung des Dichters und ein Hinweis auf die Interpretation.
Der Mensch ist in der szenischen Darstellung ein „ gesammelter“ Mensch, ein Bündel verschiedener, unterschiedlicher, ausgewählter und verdichteter Menschlichkeit. Die Menschenkenntnis der Darstellenden sorgt für Wiedererkennung und für Vergleichbarkeit. Das unterstützt die Glaubhaftigkeit und entzieht die Figur dem alleinigen Diktat des Regisseurs, denn seine Kenntnis von Menschen ist begrenzt.

Kleider machen Leute oder Kostüm und Bewegung
Die Figur bewegt das Kostüm, und das Kostüm bewegt die Figur. Ein Kostüm tragen ist nicht dasselbe wie es anhaben. Das Tragen weist auf eine Wertschätzung, eine Notwendigkeit hin, auf etwas besonderes, auf eine besondere Situation.
Wenn man etwas anhat, ist das etwas Nützliches, nichts Besonderes.
Der Anzug wird fast immer von einem Attribut beschrieben: schwarz, gut sitzend, vergammelt, zu weit oder zu eng, festlich, unmodern, geborgt, teuer, dienstlich u.s.w.
Das Gleiche gilt für das Kleid: es ist festlich, schön, durchsichtig, gewagt, elegant, streng, wehend, kurz oder lang, kleidsam u.v.a.m.

Zeig her deine Füße, zeig her deine Schuh
Schuhe sind nicht nur für das Gehen da.. Sie machen den Gang und der ist ein wichtiges Ausdrucksmittel. Der Schuh ist die Verbindung zum Boden, die Erdung, der Kontakt zur Welt.
Der jeweilige Schuh ist beteiligt am Marschieren,Trippeln, Stolzieren, Wandern, Spazieren, Tanzen, dem Auftritt, dem Erreichen von Zielen, an der Müdigkeit, dem Nicht-mehr-Laufen-Können, am Treten und Getretenwerden, an Standfestigkeit und Schwäche, an Leisetreterei, an Imponiergehabe u.a.m…
Schuhe sind passend, sie drücken, sie sind zu eng oder zu groß, zu leicht, zu schwer oder auch nicht, es sind die falschen Schuhe, sie sind nicht geputzt oder frisch geputzt es sind die besten Schuhe u.s.w

Mit dem Hut in der Hand kommt man durch das ganze Land

Will man ein Kostüm aufbauen, muss man es aus seinen Teilen bewusst zusammensetzen. Dabei geht man vom Körper aus. Ein bestimmter Kopf braucht einen bestimmten Hut. Was will der Kopf?

Nicht nur gut aussehen, man trägt ihn, hat ihn absichtsvoll ausgewählt. Eine Form sitzt auf einem Inhalt. Da hängt ein ganzer Körper dran. Der Hut endet an den Füßen und dazwischen ist eine Haltung. Wenn er sich nicht auf dem Kopf aufhält, wird er ein Objekt, das gestisch bewegt, gehandhabt wird.

Die Hüte sind Objekte mit Auskünften und einem gewissen Erzählwert. Sie verweisen auf Haltungen. Wer den Hut flott in den Nacken geschoben hat, sieht die Welt anders als jener, der ihn tief in die Stirn gezogen hat. Der eine öffnet sich, der andere verschliesst sich.
Wer hat welchen Hut auf? Wer eine Mütze, einen Zylinder, einen Stahlhelm, ein Damenhütchen mit Kunstkirschen, ein Designermodell und einen Fez, ein Ulkhut und ein Schutzhelm, ein Kopftuch und ein Basecap… Dazwischen liegen Welten und Kulturen.

Werden Kostüme markiert, sucht man sich in seiner Probenumgebung Dinge, mit denen man etwas andeuten kann. Die Andeutung erzählt oft mehr als eine perfekte Anfertigung. Durch das szenische Behandeln wird ein normaler Alltagsschal zur Stola oder Boa, ein Tischtuch Umhang, ein Schuhkarton Zylinder, eine gewendete Jacke verändert das Aussehen, eine hängende Hose macht einen anderen Gang, zieht man Ärmel über die Hände, entsteht eine andere Gestik und Haltung. ( Man denke an den Pierrot), eine mitgebrachte Winterwollmütze wird damit geschmückt, was man bei sich hat, durch Füllungen werden Bauch, Hinterteil , Brust, Schultern hervorgehoben ( dabei wird weniger an einen auffälligen ulkigen Effekt gedacht, sondern an eine „ Figur machende“ Veränderung.)
Man kann diese Mittel im Verlauf der Proben reduzieren oder ganz weglassen, wenn dadurch eine Haltung entstanden ist, man dick handeln kann, ohne so auszusehen. Aber eine konkrete Erfahrung hilft dabei. Ein Kostümumweg!

Ob ein Kostüm Freiheiten gibt, beengt, verkleinert oder vergrößert, ansehnlich oder unansehnlich macht, wichtig oder unscheinbar, arm oder reich, poetisch oder bürokratisch, brutal oder friedlich, kann man auch mit seiner Alltagskleidung durch oft nur kleine Veränderungen erzeugen. Das ist eine Annäherung an eine Rolle, die mit dem umgeht, was man schon hat und was daraus werden kann.

Mit dem neuen Aussehen muss man umgehen, wenn man anders aussieht: anders handeln. Zu der erfolgten Veränderung soll eine Beziehung gefunden werden, die Verwandlung empfunden, die äußerliche Haltung eine innere, die innere Beteiligung als Vorgang erlebt werden.
Man beschäftigt sich mit seiner äußeren Formung und sucht nach einer inneren Entsprechung. Das kann verwundern, überraschen, entsetzen, verwirren… Das kann Problem und Konflikt werden, aber auch Aussicht.

In einem Interview zum Thema Methodenvielfalt äußerte Hans-Ulrich Becher, Regisseur und Professor für Theaterarbeit an der Folkwang-Hochschule Essen/Bochum:
„ … der Schauspieler ist jemand, der spezialisiert und trainiert ist, Gefühle und Emotionen, Erinnerungen und Situationen stark zu empfinden und zu erleben, sie beobachtend zu verarbeiten, um sie dann wiederholend „herstellen“ zu können. Diese „innere Technik“ gibt eine Grundlage für die Darstellung in der Nachfolge von Konstantin S. Stanislawski, Michael Cechov und Lee Strassberg.
Auf der anderen Seite können wir historisch von Diderot, Craig, Meyerhold und Brecht sprechen. Dieses 2. Ende ist die „äußere Technik“, die mit Sprechen, Stimme, Klang, Bewegung, Körper, Dynamorhythmus, Raum und Timing, Akrobatik, intellektuelles Begreifen von Texten, physisches und formales Gestalten zu tun hat.
In einem dialektischen Prozess beeinflussen sich beide Techniken, so dass das Handeln und die Empfindsamkeit mit den äußeren Techniken verschmelzen, sich am Schluss im Flow und in der Mitte vereinen.
Leider wird das eine so oft gegen das andere ausgespielt, aber in Wirklichkeit treffen sich die beiden Enden – auf welcher Seite der Waage auch immer.
Bei einem guten Schauspieler werden sich die beiden Enden begegnen. Der eine muss zuerst z. B. Gänge und Mantelanziehen probieren, der andere erst eine Atmosphäre oder Gestimmtheit.
Es gibt keinen konsensstiftenden allgemeinen Theaterbegriff mehr.
Ein Schauspieler, der in einem Ensemble spielt, in dem es verschiedene stilbildende Regisseure mit einer jeweils vollkommen verschiedenen Auffassung von Theater und vom Schauspielen gibt, muss den Spagat machen können, jeweils mit den verschiedenen Handschriften klarzukommen. Diese Handschriften können zueinander in völligem Widerspruch stehen, das geht ja von performativen Ansätzen, die nichts mehr mit Figuren und Situationen zu tun haben, bis hin zu hoch psychologischen einfühlenden Techniken.
Deswegen muss das in der Ausbildung bereits vorkommen, mit dem Mut, mit dieser Vielfalt spielerisch, vor allem unbefangen und neugierig umzugehen.“

Der Beitrag von Horst Hawemann, über die Frage, wie eine Figur entsteht, steht als Beispiel für die „ äußere Technik“ aus der Praxis und Tradition der Ernst-Busch-Hochschule, an der auch die Grundlagenarbeit unserer Schule orientiert ist.

Im Konzept „ Wie eigne ich mir eine Rolle an“ bezieht sich Ursula Rennecke auf die in der Nachfolge von Stanislawski stehenden Sanford Meisner/ William Esper, Stella Adler, Steven Reiss, Larry Moss und Ivana Chubbuck.
Mögen an der Fritz-Kirchhoff-Schule die beiden Techniken weiterhin bemüht sein, sich in der Mitte zu treffen, bei der Monolog- wie in der Szenenarbeit!

D.L.