Max Reinhardt

Wir alle tragen die Möglichkeiten zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns.

Unsere Erziehung freilich arbeitet dem entgegen. Ihr erstes Gebot heißt: Du sollst verbergen, was in dir vorgeht.

Wir haben uns auf eine Reihe allgemeingültiger Ausdrucksformen geeinigt, die zur gesellschaftlichen Ausrüstung gehören. Diese Rüstung ist so steif und eng, dass eine natürliche Regung kaum mehr Platz hat.

Der gesellschaftliche Kodex hat selbst den Schauspieler, also den berufsmäßigen Gefühlsmenschen korrumpiert.

Die Schauspielkunst ist aber die Befreiung von der konventionellen Schauspielerei des Lebens. In den Kindern spiegelt sich das Wesen des Schauspielers am reinsten wider.

Ihre Aufnahmefähigkeit ist beispiellos, und der Drang zu gestalten, der sich in ihren Spielen kundgibt, ist unbezähmbar und wahrhaft schöpferisch. Sie verwandeln alles in das, was sie wünschen. Und dabei das klare, immer gegenwärtige Bewusstsein, dass alles nur Spiel ist, ein Spiel, das mit heiligem Ernst geführt wird.

Das Theater ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen.

Der Weg zu uns selbst und zu unseren Nächsten ist sternenweit. Der Schauspieler ist auf diesem Weg. Mit dem Licht des Dichters steigt er in die noch unerforschten Abgründe der menschlichen Seele, um sich dort geheimnisvoll zu verwandeln; er ist Mensch an der äußersten Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, er steht mit beiden Füßen in beiden Reichen.

aus: Max Reinhardt, Rede über den Schauspieler, 1929