Kinomichi und Theater

Die Erfahrung von Michel Chiron, Schauspieler und Regisseur über den Zusammenhang von Kinomichi und Theater:

Als Meister Noro mich eines Abends aus dem Stegreif ansprach: „Könnten Sie etwas über Ihre Erfahrung des KINOMICHI als Schauspieler und Theaterlehrer schreiben?“, da ahnte ich die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe. Wie soll man mit Worten seine Erfahrung benennen? Die einzige Art, darauf zu antworten, schien mir, um das Thema „herum“ zu denken und mich so dem Kinomichi schrittweise zu nähern.

In Zeiten des inflationären Wachstums der Medien erscheinen das Kinomichi und das Theater mehr und mehr wie eine Zuflucht zum Lebendigen, zum noch Handgemachten, zu einem sich widersetzenden Gedächtnis. Die Quelle ihrer Kunst ist der Körper, das Menschliche.

Die wahre Kraft, die Spezialität des Kinomichi liegt im Geheimnis des Augenblicks selbst – paradoxerweise flüchtig und unverrückbar zugleich -, die nach und nach zu Tage tritt und die jedesmal, wenn sie wirklich empfunden wird, ein Gefühl wie beim Hören eines reinen Klanges in uns hinterlässt.

Die Methode Noro hat etwas von der Bergung dieses verborgenen Schatzes an sich. Meister Noro hilft uns bei der Suche, mit ihm gemeinsam etwas ans Tageslicht zu befördern, den Schatz zu entdecken. Die Arbeit mit dem Stock – und noch mehr mit dem Schwert – entblößt uns, zeigt uns unsere Leere, enthüllt unsere Schwächen. Der Bokken (das Hochschwert), der Stock und das Laito (Metallschwert) sind untrügliche Spiegel unseres Inneren. Sie reflektieren all unsere Personen, unsere Masken und unsere täglichen Lügen; all die Ängste, den falschen Schein, unsere Illusionen… und unsere Lebensenergie und Lebensfreude.

Beim Üben des Kinomichi gibt es ein wirkliches Abenteuer zu bestehen, das Abenteuer des Balanceverlustes nach vorne. So, als ob es uns unwiderstehlich nach vorne zöge, als ob unser ganzer Körper, unsere ganze Persönlichkeit nur diesem Bestreben dienten. Dieser Schlüsselmoment des Übergangs vom Gleichgewichtsverlust hin zu einem instabilen Gleichgewicht, diese Mikroveränderungen im Verhältnis zur reinen Vertikalen des Körpers sind im Endeffekt die Quelle einer sehr viel feineren Energie, die von der Spitze der Zehen bis in alle Extremitäten des Körpers reicht. (Im Bereich der Anthropologie des Theaters beschäftigt sich die ganze Forschungsarbeit Eugenio Barbas und des dänischen Odin Theaters mit diesen Fragen.)

Dieses flüchtige Gleichgewicht erfordert ein ständiges Loslassen. „Lächelt!“ ruft Meister Noro in den Raum. Lächeln heißt, das Nichtwissen schon zu akzeptieren. (Der „Hochmut“ des Anfängers – seine Angst, seine Widerstände, seine Spannungen – gegenüber der Demut, die das lange Üben die Älteren gelehrt hat.) Um diesen Zustand zu erreichen, ist die Arbeit an der Verfeinerung des Kontakts zum Partner zweifellos von grundlegender Bedeutung und die Präzision in der Geometrie der Körperlinien unerlässlich.

Mir scheint, dieser Moment des Übergangs gehört zum Kern des Kinomichi und darin manifestiert sich ein fundamentales Prinzip der Schauspielkunst und des Tanzes. In seinem „Essay über das Marionettentheater“ studiert Kleist die Bewegung der Puppen und sagt, „dass sie noch dazu den Vorteil haben, der Schwerkraft zu entfliehen. Sie wissen nichts vom Trägheitsgesetz der Materie, dem größten Feind des Tanzes, denn die Kraft, die sie hochhebt, ist größer als die, die sie am Boden hält, und sie brauchen den Boden nur, um ihn kurz zu streifen und den Elan ihrer Glieder über diese momentane Stütze wiederzubeleben.“ Darin liegt auch der ganze Unterschied zwischen westlichem und (fern-)östlichem Tanz. Im Westen verlässt der Fuß normalerweise beim Tanz den Boden, z.B. während eines Sprungs, wohingegen in Asien, z.B. in Japan, der – wohlgemerkt traditionelle – Schauspieler oder Tänzer bemüht ist, seinen Schwerpunkt durch ein Verschieben des Beckens in Richtung Boden zu stabilisieren; er sucht den Kontakt zum Boden.

Es sind also zwei diametral entgegengesetzte Prinzipien. Dieses Verhältnis Körper – Boden, dieses Interesse für die Fläche, über der der Körper sich aufrichten kann (wesentlich auch in der Arbeit von Grotowski), finden wir im Kinomichi wieder. Aber hier verbünden sich diese beiden Komponenten: Boden – Raum, Erde – Himmel. Der Körper wird im Kinomichi ganz real zu der von diesen beiden Kräften belebten Materie, zum bevorzugten Ort ihrer Begegnung.

Die Ausbildung eines Schauspielers findet oftmals ebenfalls in dieser Tradition statt in Form einer direkten Unterweisung von Person zu Person. Die „Blume“ eines Schauspielers, von der Zéami, der Begründer des No-Theaters spricht, überträgt sich – „einmal der traditionelle Stil erlernt, – von Herz zu Herz“. Wenn Meister Noro lächelnd sagt: „Eure Gebärden erstarren… sinkt nicht in euch zusammen… ihr zieht, ihr lasst eure Bewegungen verhärten… das ist gebrochen… das ist eckig… ihr seid zu sehr in euren Schultern… es fehlt die Expansion… Nilpferdgang… öffnet eure Herzen“, dann lässt sich hinter seinen Bildern, hinter seinen Anekdoten die Poesie des Körpers erahnen.

Im Tun lernen heißt, über das minutiöse Studium der technischen Details in einer bestimmten Haltung die richtigen Energielinien zu finden und dabei das rechte Maß zu wahren.

Die Ästhetik des Kinomichi als Bewegungskunst sucht gezielt die Entwicklung von Formen, die die Expansion im Raum fördern und einen gelösten und nichtverspannten Körper heranbilden, und nicht die Kontraktion. Mit den Worten von Grotowski: nicht die Entwicklung des Organismus als Masse des rein athletischen Muskel-Organismus wird gesucht, sondern des Organismus als eines Kanals frei fließender Energie.

Schon das Begrüßungsritual im Kinomichi ist ein Beispiel für die Forderung nach einer von den Füßen ausgehenden Präsenz: die Sitzhaltung… das Aufstehen… der Übergang zum Gehen.

Oft sagt Meister Noro humorvoll, aber voller Ernst: „Eure Bewegung ist nicht sexy genug!“ Zéami spricht vom „subtilen Charme“ des Schauspielers, von einer Präsenz, in der sich Kraft mit Zartheit und Geschmeidigkeit verbindet, Stärke mit Durchlässigkeit, das Maskuline mit dem Femininen in ein und derselben Person, und Bewegung – das Yin und das Yang – sich die Waage halten. Das Kinomichi sucht die Harmonie der Gegensätze, ohne dabei das natürliche Temperament der Geschlechter aus den Augen zu verlieren. In einem sozialen und ökonomischen Klima der Konfrontation widersetzt sich das Kinomichi – seinen eigenen Grundsätzen treu bleibend – der allgemeinen Strömung und bietet ein Vorbild an.

In der Vermittlung und Weiterentwicklung des Kinomichi stellt Meister Noro eine Reihe Fragen, die die wesentlichen Aspekte der Arbeit des Schauspielers betreffen: die Fähigkeit der gefühlsmäßigen intuitiven Erfassung des Augenblicks (Zéami spricht von der „Richtigen-Augenblick-Intuition“), der kreative Kontakt mit dem Partner, ein Gefühl für Nachahmung, Wiederholung, körperlich-seelische Entkrampfung mit Hilfe sanfter Dehn- und Entspannungsübungen, das Üben der Bauchatmung, der Einsatz verschiedener energetischer Niveaus, im körperlichen wie im emotionalen und geistigen Bereich. Schon die allerersten Bewegungen im Raum finden im Kontakt mit einem oder mehreren Partnern statt (im Gegensatz z.B. zum Yoga oder Tai Chi).

Und je mehr sich die Bewegung beschleunigt, desto mehr muss das Gedächtnis des Körpers darüber wachen, Weichheit und Geschmeidigkeit, Harmonie und Bewegungsfluss zu bewahren. Mit der körperlichen Transformation geht auch eine deutliche geistig-mentale Veränderung einher. Für den Schauspieler sind Kontrolle und bewusster Umgang mit seinen emotionalen Zuständen immer an der Tagesordnung.

Interessanterweise scheinen mir Masamichi Noro und Jerzy Grotowski schon seit einiger Zeit ähnliche Wege zu gehen, jeder auf seinem Gebiet und in seiner eigenen Form. Beide – Meister Noro noch vor der Entwicklung des Kinomichi und seinen verschiedenen Entstehungsphasen (bis 1971) und Jerzy Grotowski innerhalb des Theaters (bis 1969) – entwickelten bezüglich ihrer Technik und Effizienz eine äußerst spektakuläre Praxis und Methode. Sie verkörperten ein solch hohes Niveau an Kompetenz, Professionalität und Aufrichtigkeit, dass sie eine ungeheure Anziehungskraft auf viele Schüler und Gruppen hatten.

Anschließend entwickelte sich ihre Arbeit der Logik ihrer persönlichen Entwicklung folgend. Der öffentliche Auftritt trat mehr und mehr zugunsten der inneren Suche in den Hintergrund. Diese braucht Stille und Abgeschiedenheit.

Als Grotowski im September 1990 wieder in Paris auftauchte, sagte er im Rahmen eines Vortrags über seine aktuelle Arbeit: „Ich bin ein suchender Künstler, ein Forscher.“ Einige seiner Äußerungen scheinen mir ein Echo der Worte Meister Noros zu sein – besonders hinsichtlich der Bedeutung der Präzision als einer möglichen Lösung für die „abgetriebene Welt“, in der wir leben, oder wenn er über „Organität“, die Qualität des Lebendigen im Individuum und über den „Herzimpuls“ in Verbindung mit perfekter Meisterschaft spricht.

Das Kinomichi – Bewegungskunst, Wissenschaft der Energie und Lebensphilosophie zugleich; Klarheit des Herzens und des Geistes in Verbindung mit Lebenskunst – erfordert und begünstigt einen bestimmten Seinszustand, einen „other mind“, wie es die balinesischen Schauspieler nennen und womit sie jene Bewegung jenseits perfekter Technik bezeichnen, die sie verwandelt.

Aber wie soll man es nur erreichen? Meister Noro würde sicher antworten: Indem man übt – wieder und wieder.